CMD – Als Spurenleser auf der Suche nach der richtigen Funktion
20.01.2023 – Dieser Beitrag ist in der ZWL Zahntechnik Wirtschaft Labor erschienen.
Die bestmögliche (Wieder-)Herstellung der gesunden Kaufunktion des Patienten ist eines der obersten Gebote für die Zahnmedizin und Zahntechnik gleichermaßen. Im Interview spricht Dr. Hinderk Ohling als Experte für Funktionsdiagnostik über die Bedeutung der Funktionsanalyse für funktionell-ästhetische Rekonstruktionen und für die Behandlung von craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) sowie über die Anwendung des DROS®-Konzepts bei diesen Behandlungsschwerpunkten.
Einer Ihrer Behandlungsschwerpunkte ist die Funktionsanalyse. Was macht diesen Schwerpunkt konkret aus?
Sofern man wie ich als Zahnarzt schwerpunktmäßig prothetisch-rekonstruktiv tätig ist, begleitet einen das Thema Funktion zwangsläufig dauerhaft. Die Funktion des Kausystems ist essenziell für die Behandlung der Patienten – bindet man diese nicht ausreichend in die Anamnese ein, kann eine erfolgreiche Behandlung schlichtweg nicht gewährleistet werden. Um meinen Patienten deren Bedeutung näherzubringen, vergleiche ich die Funktion des Mundraums metaphorisch immer mit einem Reifenwechsel. Bekomme ich als Zahnarzt die Aufgabe, „einen neuen Reifen – beispielsweise eine Krone – aufzuziehen“, muss ich die „Spureinstellung im Fahrwerk Mund“ genau kennen. Aus diesem Grund führe ich eine klinische manuelle und instrumentelle Funktionsanalyse beim Patienten durch. Die Funktionsanalyse ist damit einerseits wichtige Grundlage für sehr gute funktionell-ästhetische Ergebnisse bei prothetischen Rekonstruktionen. Andererseits ist sie auch unerlässlich für Diagnose und Therapie von craniomandibulären Dysfunktionen, sofern der Verdacht auf eine Störung der Okklusion mit Kieferfehlstellung als Ursache für auftretende Beschwerden besteht. Für die weitere Behandlung ist es zudem unerlässlich, zu wissen, ob eine Pathologie im Kiefergelenk des Patienten von arthrogener oder myogener Natur ist. Dokumentation ist dabei das A und O – diese gibt mir auch Sicherheit, denn je mehr Daten gesammelt werden, desto spezifischer kann ich die Behandlung auf den Patienten abstimmen.
Anhand welcher Symptome äußert sich eine solche Kieferfehlstellung?
Eine gestörte Okklusion mit einhergehender nicht stabiler physiologischer Kondylenposition und daraus resultierender muskulärer Verspannung im Kopf- und Kieferbereich kann Symptome verursachen, die wir gemeinhin als CMD- Beschwerden bezeichnen. Diese Beschwerden zeigen sich beispielsweise als Zahnlockerungen oder Zahnwanderungen, können sich aber auch von Kiefer-, Nacken- und Rückenschmerzen bis hin zu Tinnitus, Schwindel oder Schlafstörungen äußern. Kommt ein Patient zur mir in die Praxis, hat er in den meisten Fällen schon einen langen Leidensweg hinter sich, denn die Symptome werden nur selten direkt mit einer Kieferfehlstellung in Verbindung gebracht. Deren Feststellung erfordert viel Erfahrung und wie bereits erwähnt eine umfassende Funktionsdiagnostik. Als problematisch empfinde ich, dass die Zusammenhänge zwischen Kaufunktionsstörungen und Beschwerdesymptomatik an den Universitäten nicht näher behandelt werden – zumindest haben mir das meine Kinder rückgespiegelt, bei denen das Studium der Zahnmedizin noch nicht lange zurückliegt.
Welche Bedeutung nimmt die Funktionsanalyse bzw. -diagnostik in der Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin und Zahntechnik ein und wie gestaltet sich diese?
Die Funktionsanalyse bzw. -diagnostik hat in der Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin und Zahntechnik eine zentrale Bedeutung. Die Analyseergebnisse liefern wichtige Aussagen zur Pathologie der anatomischen Strukturen sowie zur Okklusion. Die Positionsdefinition der Kondylen fällt dabei in den Verantwortungsbereich des Zahnarztes. Die Kenntnisse zur harmonischen, ausbalancierten und funktionell gestalteten Okklusion sollte der Zahntechniker in die Zusammenarbeit einbringen. Voraussetzung dafür ist ein exaktes und standardisiertes Analyseverfahren, um eine erfolgreiche Kommunikation zu garantieren, damit eine passende Lösung erarbeitet werden kann.
Sie behandeln funktionale Probleme im Kiefer vor allem mithilfe des DROS®-Konzepts. Was macht dieses Konzept konkret aus?
DROS steht für Diagnostische, Relaxierende, Orientierende, Stabilisierende Oberkiefer-Aufbissschiene. Das DROS®-Konzept ist für mich der logische Behandlungsschritt, wenn die klinische manuelle und die instrumentelle Funktionsanalyse in Verbindung mit dem Anamnese- und CMD-Screeningbogen den Verdacht auf eine Kaufunktionsstörung bestätigen konnte – wenn also der Zusammenhang zwischen den CMD-Beschwerden und der Okklusion beim Patienten belegt und eine Schienentherapie medizinisch angezeigt ist. Unter Nutzung der Schiene können mit Okklusionsfolienstärken von 11–15 µ Feinjustierungsschritte vorgenommen werden, die Überprüfung der Kontaktpunkte erfolgt durch eine Shimstock-Folie von 11 µ. Dabei wird der Anwender regelrecht zu einem Spurenleser, bis das Behandlungsziel, die Harmonisierung von Okklusion und Kondylenposition, erreicht ist. Entscheidend für das Konzept ist, dass die Diagnostik der Okklusion bei stabiler physiologischer Kondylenposition (SKP) über verschiedene Phasen ein und derselben Schiene abläuft. Die erste Phase dient der Relaxation der Kaumuskulatur sowie der mandibulären Neuorientierung. Daran schließt sich die zweite Phase an, in welcher die Orientierung sowie Stabilisierung der Kondylen in den Kiefergelenken im Fokus stehen. Das sorgt schlussendlich für eine neuromuskuläre Entspannung mit Harmonisierung von Okklusion und Kondylenposition. Gerade diese zwei Phasen charakterisieren das Schienen-Konzept und sind damit auch der Hauptunterschied zu vergleichbaren adjustierten Aufbissschienen wie etwa der Michigan-Schiene.
Herr Dr. Ohling, könnten Sie diese zwei Phasen des Konzepts nochmal näher beschreiben? Wie gestaltet sich dieser Abschnitt der Behandlung?
Die DROS® I-Phase der Schiene zeichnet sich durch ein Frontzahnplateau für die Relaxierungsphase mit Aufhebung der Seitenzahnkontakte aus – bei keinem anderen Konzept ist eine solche Phase in die Behandlung mit einer Schiene integriert. Dieses Plateau-Design erleichtert eine dreidimensionale Neuausrichtung des Unterkiefers. Diese Neupositionierung sorgt schließlich für eine nachhaltige Entspannung der Muskulatur.Die Überleitung in die zweite Phase der DROS®-Schiene wird mithilfe von Registrierungen auf der Schiene gestaltet.
Die zweite Phase erfordert den Umbau der Schiene durch den Zahntechniker. Dafür werden die Messdaten an das jeweilige Labor weitergegeben. Die Entscheidung für den Start der zweiten Phase liegt dabei alleinig beim Behandler. Für den Umbau der Schiene werden eine seitliche Abstützung sowie eine Front/-Eckzahn-Führung mit einer Neigung von 25 bis 30 Grad integriert, um eine dorsale Verlagerung des Unterkiefers zu vermeiden. Der seitliche Aufbiss wird als horizontales Plateau ausgearbeitet, auf dem nur ein zentrischer Kontakt je unterem Seitenzahn besteht. Auf dem relativ flachen Front- bzw. Eckzahnführungsplateau und dem horizontalen Aufbissplateau wird diese DROS® II-Schiene (adjustierte Aufbissschiene) ohne störende Manipulation der Bisslage nun in wöchentlichen Terminen feinjustiert. Als Orientierungshilfe für den Justierungsprozess dienen die Kontaktpunkte auf der Schiene. Das Ziel, die Erlangung einer neuen zentrischen Relation in stabiler Kondylenposition (SKP), wird durch die DROS®-Schiene entscheidend erleichtert. Erfahrungsgemäß ist dieser Behandlungsabschnitt in sieben bis zehn Wochen abgeschlossen. Der Vorteil ist, dass der Behandler niemals die Bisssituation auf der Schiene verliert und das Therapieziel sicher erreichen kann.
Eine craniomandibuläre Dysfunktion ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern. Was ist bei deren Behandlung – gerade auch unter Anwendung des DROS®-Konzepts – besonders wichtig?
Craniomandibuläre Dysfunktionen äußern sich vielfältig, und auch die Ursachen für dieses Krankheitsbild reichen in nahezu alle medizinischen Fachbereiche. Vor allem Stress ist ein sehr häufiger Auslöser von massiven Muskelverspannungen im Kopf-, Kiefer- und Gesichtsbereich. Daher gibt es auch vielfältige Behandlungsmöglichkeiten, die von Physiotherapie, Massagen bis zu Entspannungsübungen reichen. Allerdings handelt es sich dabei oft um rein symptomatische Behandlungsansätze, die das Problem sofern ursächlich okklusal bedingt, nicht an der Wurzel packen. Das DROS®-Konzept bietet mir einen ursächlichen Behandlungsansatz in denjenigen Fällen, in denen eine Okklusionsstörung Auslöser der Beschwerden ist. Ebendiese Abklärung von Störungen der Okklusion ist meine Aufgabe als Zahnarzt. Bei der Anwendung des DROS®-Konzepts legen wir außerdem großen Wert auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten sowie Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen. Gerade aufgrund der engen Zusammenarbeit ist eine umfassende Funktionsanalyse entscheidend, da dem Patienten so vollständig geholfen werden kann. Dabei ist es besonders wichtig, dem Patienten genau zuzuhören und alle Beschwerden, die mit der CMD zusammenhängen könnten, ernst zu nehmen und in den Anamneseprozess einzubeziehen. Wird durch die Schienentherapie primär eine neuromuskuläre Entspannung im Kausystem erreicht, ist zwar schon ein großer Teil der Ursachenkette behoben, aber die Anwendung der Schiene allein führt trotzdem nicht immer zum vollständigen Therapieerfolg. Hat das Zähneknirschen bzw. der Bruxismus beim Patienten beispielsweise zu einem starken vertikalen Verlust der Bisshöhe von 4 bis 8 mm geführt, kann zusätzlich auch eine prothetisch-rekonstruktive Behandlung notwendig werden. Das gilt aber natürlich nicht für die Behandlung jedes CMD-Problems. Bereits die bekannten Gnathologen Hiniker & Ramfjord haben die Bedeutung der Funktion erkannt und den Behandlern folgende Empfehlung mitgegeben: „Passen Sie die Okklusion dem Gelenk an und hoffen Sie nicht darauf, dass sich das Gelenk der Okklusion anpasst.“ Da kann ich mich nur voller Überzeugung anschließen.
Herr Dr. Hinderk Ohling, vielen Dank für das Gespräch.
Dieser Beitrag ist in der ZWL Zahntechnik Wirtschaft Labor erschienen.
Dr. Hinderk Ohling ist Experte für Funktionsdiagnostik und die zahnärztliche Therapie craniomandibulärer Dysfunktionen – diese behandelt er schon seit Jahren mit dem DROS-Schienentherapiekonzept.